Die Darlington Road Kids
Band 1
Verrat in London
Razzia
Alicia, Rufus und René tauchten auf – ein wenig atemlos. Sie blieben alle am
Durchgang stehen.
„Die Soldaten drehen das Unterste zuoberst“, sagte Rufus. „Ich hoffe, dein Vater
versteckt niemanden.“
„Wie kommst du denn auf solche Ideen?“, herrschte ihn Jo scharf an.
„He – das war nur ein Scherz“, verteidigte sich Rufus.
„Ein ziemlich schlechter. Wer einen geflohenen Sträfling versteckt, landet selbst im
Gefängnis.“
Terrence begann im Lagerraum Tische und Stühle zu sortieren und machte dabei
einigen Lärm.
„Was treibst du da?“, fragte René.
„Aufräumen“, gab Terrence einsilbig zurück.
Er konnte die genagelten Stiefel der Soldaten hören, die Männer sahen in jedes
Zimmer.
„Wieso?“
„Anordnung von Mr. Bill. Er will ausmisten.“
„Jo, dein Vater will hier ausmisten? Heißt das etwa, er will den Lagerraum wieder
benutzen? Was wird dann aus uns?“
„Ich weiß es nicht, René. – Hast du eine Erklärung für die Schmiererei an der
Schule?“
„Irgendein Schwachkopf, der Franzosen nicht mag – es trifft mich nicht, ich bin
Brite.“
„Bist du das?“, fragte Alicia ein wenig spitz.
„Ich bin hier geboren. Genauso wie du, wie Jo und wie Rufus. Also
bin ich Brite.“
„Und würdest du auch für dieses Land kämpfen?“
„Selbstverständlich. Was soll die Frage?“
Alicia hob die Schultern. „Ich dachte gerade über Loyalität nach.“
Rufus ließ sich schwer auf die Bank fallen und holte seine Schulbücher hervor.
„Wie kommst du gerade jetzt darauf?“
Alicia warf Jo und Terrence, der interessiert näher gekommen war, einen kurzen
Blick zu und hob erneut die Schultern. „Manchmal gehen mir solche Dinge
unversehens durch den Kopf. Kein besonderer Anlass.“
„Ich denke“, sagte René langsam, „unsere Loyalität sollte zuallererst unseren
Familien gelten, unseren Freunden und dann unserem Land.“
„Und wenn man keines hat?“, fragte Terrence.
„Nicht was hat?“
„Ein Land, wenn man keine Heimat hat.“
„Dann nur der Familie und den Freunden – aber jeder hat eine
Heimat.“
„Ich bin mir da nicht so sicher.“
Die Tür öffnete sich und Little Bill trat ein, dicht auf gefolgt von Mr. Baker und
Whimsy.
„Hallo, Kinder – wir müssen hier nur mal nach dem Rechten sehen.“
„Was ist denn los?“, fragte Terrence. „Sind die Franzosen gelandet?“
Baker maß ihn mit nachdenklichem Gesicht. „Das wäre dir als Iren ja wahrscheinlich
recht, oder?“
„Möglicherweise. Vielleicht aber auch nicht. Es käme darauf an ...“
Little Bill schüttelte den Kopf.
„Nur keinen Streit vermeiden, wie? Ich dulde in meinem Haus keine politischen
Diskussionen, außer in der Schankstube nach der Sperrstunde. Und dann nur, wenn
ich Schiedsrichter bin.“
Little Bill ließ seine rechte Faust in die offene Linke fahren, um anzudeuten, wie er
sich sein Amt als Schiedsrichter vorstellte.
„Sehen Sie sich um, Mr. Whimsy. Ich glaube irgendwie nicht, dass Sie hier Sträflinge
finden.
Vielleicht Ratten und Mäuse? – Wie ich sehe, hast du schon angefangen,
Terrence. Ist dir was aufgefallen?“
„Weder Ratten noch Mäuse, Mr. Bill.“
„Sehr schön. Ich mag das Ungeziefer nicht im Haus haben.“
Die Soldaten begannen den Lagerraum zu durchsuchen, einige Stühle fielen um.
„He – ihr Trampel, das ist eine Durchsuchung und kein Sturmangriff“, empörte sich
Little Bill.
„Nichts zu finden“, stellte Whimsy fest.
„Abmarsch – wir müssen bis heute Abend noch die ganze Straße durchsuchen.
Als ob das was bringen würde – bei dem Radau, den wir veranstalten, ist jeder
der zehn noch flüchtigen Sträflinge längst über alle Berge.“
Ein Soldat kam die Treppe hinauf, auch er keuchte vom steilen Anstieg. Vor Mr.
Baker ließ er ein Bündel Hand- und Fußfesseln auf die Bohlen fallen, dass es krachte
und schepperte.
„Die haben wir in der Gasse gefunden, Mr. Baker, Sir.“
Baker hob eine der Ketten auf und betrachtete sie nachdenklich.
„Aufgeschlossen. Die Kerle hatten ihre eigenen Schlüssel.“
„Oder jemand hat ihnen mit Werkzeug ausgeholfen. Vielleicht ein Schmied.“
Baker, Whimsy und Little Bill starrten entgeistert Josh Colm an, der sich heimlich
dem Suchtrupp angeschlossen haben musste.
„Was tust du hier?“
„Ich unterstütze die Konstabler.“
Little Bill sah zu Baker und der schüttelte den Kopf.
„Die Constabler verneinen das. Außerdem gefällt mir die Anspielung nicht, die du da
gerade gemacht hast.“
„Welche Anspielung? Ich habe doch nur gesagt, dass den Ausbrechern vielleicht ein
Schmied geholfen hat.“ Josh Colm grinste fies. „Ich habe keine Namen genannt.“
„Das ist auch besser so für dich. Und jetzt raus. Sonst nehme ich mein Recht wahr,
jeden Unbefugten auf meinem Grund und Boden grün und blau zu prügeln. –
Übrigens hast du Hausverbot!“
Little Bill machte einen Schritt auf Colm zu und der ergriff die Flucht – mit dem
kräftigen Wirt wollte er sich auf keinen Fall anlegen.
Mr. Baker schüttelte den Kopf und winkte den Soldaten.
„Wir sehen uns heute Abend, Töchterchen.“
„Ja, Dad. Heute Abend.“
Mr. Baker schloss die Tür hinter sich und sie hörten, wie er die Treppe hinabstieg.
Alicia fuhr zu Jo und Terrence herum.
„Wo ist er?“
„Wo ist wer?“
„Der Sträfling, den ihr beiden versteckt habt. Glaubt ihr, ich bin blind oder blöde?“
„Wovon redest du?“, wollte Rufus erstaunt wissen.
„Davon, dass die beiden einen flüchtigen Verbrecher vor der Polizei versteckt haben
und mich gezwungen haben, zwischen meiner Familie, dem Staat oder meinen
Freunden zu wählen – ich wählte meine Freunde, aber ich will auch wissen, was ich
gewählt habe. Also?“
„Wie kommst du darauf, dass Jo und Terrence einen Sträfling versteckt haben? Das
wäre doch völlig verrückt von den beiden“, wandte René ein. Rufus nickte heftig.
Alicia ging in den Lagerraum und wies auf den Schornstein.
„Weder Jo noch Terrence hätten einen vernünftigen Grund, die Wartungsklappe am
Schornstein zu öffnen. Wie ihr sehen könnt, ist sie nur angelehnt und nicht richtig
verschlossen. Und dort am Schornstein seht ihr eine Fußspur, eine sehr kleine. Ein
Kind, vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Jo und Terrence haben größere Füße – der
Ire lebt sogar auf ziemlich großem Fuß. Und aus welchem Grund sollte Jo wie
ein Irrwisch im Lagerraum hin und her laufen? Sie wollte Fußspuren unkenntlich
machen. Und die kleinen Rußflecke dort zeigen mir, dass der Sträfling durch den
Kamin gekommen ist, was die offene Wartungsklappe erklärt. Er muss auf dem Dach
gewartet haben, bis das Feuer im Schankraum ausgegangen war, und ist dann im
Kaminschacht hinuntergeklettert, hat dann die Wartungsklappe geöffnet und sich
dann hier irgendwo versteckt. Mit den rußverschmierten Kleidern hätte er aber
überall im Haus Spuren hinterlassen – das wäre Little Bill aufgefallen, das wäre
meiner Mutter aufgefallen. Er muss also noch hier sein.“
„Aber warum sollten Terrence oder Jo so etwas tun?“
„Weil sie in der Klemme waren. Terrence hat den Sträfling gefunden, und ehe er
entscheiden konnte, was er tun sollte, kam wahrscheinlich Jo hinzu. Und Jo tat das
einzig Richtige: Sie versteckte den Sträfling und verwischte die Spuren. Warum sie
das tat? Wie hätte es wohl ausgesehen, wenn sie anlässlich einer laufenden
Hausdurchsuchung einen entflohenen Sträfling ausliefert? Wie schlechtes Gewissen.
Der Richter hätte angenommen, dass Terrence und Jo, womöglich auch Little Bill,
den Sträfling versteckten und ihn nun auslieferten, um den Verdacht von sich
abzulenken. Und ich nehme ganz stark an, dass der Sträfling keine Ketten mehr trägt.
Und um die loszuwerden, braucht er Hilfe – es können also nur Terrence, Jo und
Little Bill gewesen sein. Im besten Fall wird der Richter annehmen, dass Terrence das
alleine gemacht hat und weder Jo noch ihr Vater davon wussten. Im schlimmsten Fall
steckt er alle drei wegen Beihilfe ins Gefängnis. Jos einziger Ausweg: den Sträfling
verstecken und hoffen, dass die Constabler ihn nicht finden. – Es kann natürlich auch
sein, dass Jo glaubt, dass Terrence dem Sträfling wirklich geholfen hat – dann hat sie
ihn aus Loyalität gegenüber Terrence versteckt. Und ich habe meinem Vater nichts
gesagt, weil ich Jo gegenüber loyal bin – ich hoffe, dass ich nie wieder gezwungen
bin, mich zu entscheiden.“
„Wow“, machte Rufus. „Ein Glück, dass Mädchen keine Staatsanwälte werden
können.“
„Weshalb?“
„Weil Al jeden an den Galgen bringen würde – logisch, klar und einfach, wie sie das
schildert.“
„Die Zeiten ändern sich, Rufus. Eines Tages werden Frauen Rechtsanwälte und auch
Staatsanwälte sein.“
Alicia sagte das ganz ernst und voller Überzeugung. Rufus antwortete nicht, er
glaubte ihr.
„Und wo ist dieser ominöse Sträfling?“, fragte René, der noch nicht ganz überzeugt
war. Alicia deutete auf den Schrank, vor dem Terrence einige Stühle aufgestapelt
hatte. „Die Stühle standen dort gestern noch
nicht. Und es sind die einzigen Möbel, die verstellt wurden.“
„Es tut mir leid, Maus. Ich wollte dich da nicht hineinziehen. Aber deine
Beobachtungsgabe und Schlussfolgerungen sind erstaunlich. Wie machst du das?“
Alicia schüttelte den Kopf. „Jo, man muss nur genau hinsehen. Nichts geschieht,
ohne Spuren zu hinterlassen. Und ihr hattet nicht genug Zeit, um alle Spuren zu
verwischen. – Außerdem habt ihr beide Ruß an den Händen.“
Terrence räumte die Stühle beiseite. Er zögerte. „Was machen wir jetzt?“
„Überlegen, wie wir den Burschen loswerden – ohne dass es jemand merkt“, sagte
Alicia. René und Rufus nickten eifrig.
Terrence öffnete die Schranktür. „Du kannst jetzt rauskommen. Aber mach keine
Dummheiten. Sonst gerb ich dir das Fell.“
Der Junge stieg aus dem Schrank, völlig verschüchtert starrte er die Freunde an.
Ich bin unschuldig.“
„Das behaupten alle Verbrecher“, beschied Alicia knapp.
„Und manchmal stimmt es“, setzte Terrence hinzu.
„Er sieht hungrig aus“, bemerkte Rufus.
„Und schmutzig“, stellte René fest.
„Weder Gefängnisse noch Kamine sind besonders sauber. – Terrence, besorg uns was
zu essen – eine größere Ladung Pfannkuchen mit Honig wäre recht. Ich hole Wasser,
einen Lappen und sehe, ob ich noch saubere Kleidung finde. – Und ihr drei passt auf
unseren Gast auf.“