Die Darlington Road Kids
Band 2
Labyrinth
Jo betrat die schmale Treppe, die hinab führte.
„Passt auf die Spinnweben auf, haltet die Kerze nicht zu hoch, sonst brennen wir am
Ende noch das Haus ab.“
„Das würde Alexander uns allerdings übelnehmen“, sagte Lady Kate todernst.
Die Luft auf der Treppe war überraschend gut, auch wenn sie etwas abgestanden war.
Der Staub knirschte unter ihren Schuhen, als sie langsam die Stufen hinabstiegen. Es
war sehr eng und Jo schabte mit den Schultern mehr als einmal an den Wänden
entlang.
„Sackgasse.“
Die Treppe endete. Eine winzige Kammer bot allen Vieren eben noch Platz.
„Kein Ausgang, keine Fortsetzung – wer baut denn so was?“
„Jemand, der seine Feinde irritieren will“, vermutete René. Er kniff die Augen
zusammen und grinste plötzlich.
„Jo, da links von dir ist ein kleines Bord an der Wand befestigt.“
„Und?“
„Drück mal drauf.“
Jo tat, wie geheißen. Sie stützte sich mit aller Kraft auf das kleine Metallbord, das
auch als Kerzenhalter dienen mochte. Es knirschte leise, ein metallisches Schaben
und Klicken folgte.
„Eine Art Klinke. Aber …“
Tatsächlich wirkten die Wände unverändert, von einer Tür war nichts zu sehen.
„Hm. Irgendwo muss aber eine Öffnung sein. Ansonsten wäre diese Vorrichtung
überflüssig.“
Rufus glitt mit der Hand über die Wand.
„Spinnweben. Ich hasse das klebrige Zeug. – Hier, ein Luftzug.“
„Ziemlich niedrig angebracht, diese Geheimtür. Das ist was für Zwerge.“
„Die Baumeister haben sich den Gegebenheiten angepasst. Und wenn du auf der
Flucht bist, nimmst du, was du kriegen kannst, um wegzukommen. Bequemlichkeit
ist da zweitrangig.“
„Du sprichst aus Erfahrung, René?“
„Meine Eltern könnten dir da ein oder zwei Geschichten erzählen.“
„Später mal – außerdem ist das nicht die Tür, die wir suchen. Wo ist die Fortsetzung
dieser Treppe?“
„Wahrscheinlich hier.“
Lady Kate hatte ein zweites Bord gefunden und drückte es herunter. Ein kalter
Luftzug ließ die Kerzen flackern, als die Wand zur Seite glitt.
„Ketten und Gegengewichte“, stellte Rufus lapidar fest. „Wenn man das Bord
herabdrückt, entriegelt man ein System von Ketten, Gegengewichten und
Zahnrädern. Das zieht die Mauer in eine Aushöhlung und gibt die Treppe dahinter
frei.“
„Ziemlich genial“, befand Jo.
„Die Leute damals waren ja nicht dumm. – Ladies first.“
Jo übernahm wieder die Spitze.
Am Fuß der Treppe öffnete sich rechter Hand ein Gang, dessen Ende sich in der
Ferne verlor.
Nach einigen Schritten zeigte sich rechts ein weiterer Gang.
„Und jetzt?“, fragte René.
„Ich würde sagen, immer dem Krach nach“, antwortete Rufus und deutete in den
abzweigenden Gang. Deutlich war ein hämmerndes Geräusch zu hören.
Jo zog das Stück Kreide hervor, das sie zuvor bei Armstrong mitgenommen hatte,
und malte etwas auf die Mauer.
„Was soll das denn sein?“, fragte René.
„Ein Anker, du Blödi. Bist du blind?“, fragte Rufus heftig.
„Und diese Schlangenlinie, Mr. Neunmalklug?“
„Ein vertörntes Seil“
„Ein was?“
„Ein Seil, das sich am Ankerstock verheddert hat. Das ist ein unklarer Anker.“
„Und was soll das jetzt heißen?“
„Ein unklarer Anker ist nicht einsatzbereit. Von der Seefahrt hast du aber auch gar
keine Ahnung.“
„Ich bin ja auch kein verflixter Matrose.“
„Pass auf, was du über meinen Vater sagst“, knurrte Rufus.
„Der unklare Anker ist das Wappen der Admiralität“, erläuterte Lady Kate, ein wenig
amüsiert über das Wortgefecht. „Und jetzt: Vorwärts. Da lang!“
„Moment. – Den Fußspuren nach sind wir hier nicht die ersten. Und leider geht das
alles kreuz und quer. Oder kann einer von euch erkennen, in welche Richtung es
eigentlich geht?“ Rufus wies auf den Boden.
Tatsächlich war die Staubschicht auf dem Boden mit etlichen Fußabdrücken, die in
alle Richtungen liefen, überzogen.
„Mindestens zwei verschiedene Größen“, stellte Jo fest. „Sie kommen den Gang
hinunter, biegen hier ab – die Treppe hat man völlig ignoriert – und kommen dann
wieder zurück. Aber das alles offenbar mehrfach.“
„Entweder sind wir auf der richtigen Fährte oder die beiden haben einfach wild
herum gesucht, völlig ohne Plan.“ Rufus sah frustriert hin und her.
„Nur eines ist sicher: Einer von den beiden hat uns vorhin belauscht. Und
wahrscheinlich auch Alicia niedergeschlagen“, sagte René. Er wies auf einen der
Fußabdrücke. „Den Zwilling dazu haben Terrence und ich vorhin im ersten Stock
gefunden. Und etwas Staub, ähnlich diesem hier.“
„Sehr schön.“
Rufus schwang das Stuhlbein.
„Das nur, wenn es nicht anders geht“, beschied Jo. „Mir wäre es lieber, wenn wir
niemanden verletzen müssen.“
„Zuerst einmal müssen wir die beiden Kerle zu fassen bekommen“, bemerkte Lady
Kate. „Und das können wir nur, wenn wir hier nicht länger herumstehen.“
„Stimmt. – Kommt, Jungs. Versuchen wir unser Glück.“
„Du solltest dir was Trockenes anziehen.“
Alicia musterte Terrence ernst.
„Später“, murmelte er. Ihm war schrecklich kalt, er klapperte mit den Zähnen und das
Knie schmerzte.
„Später bist du vielleicht ein Eiszapfen – und obendrein, äh …, mausetot.“
Alicia stand auf, durchstöberte die Kleider, die Lady Kate gefunden hatte, und fischte
ein löchriges Etwas heraus, das einmal ein Nachthemd gewesen sein mochte.
„Hier, benutze das zum Abtrocknen.“
Terrence zögerte kurz. Er schälte sich vorsichtig aus der nassen Jacke und dem Hemd
und begann, seinen Oberkörper trockenzulegen.
„Den Rest auch noch.“
„Geht nicht“, stellte Terrence lapidar fest und deutete auf die beiden Blockflöten, die
sein Knie ruhigstellten. „An den Dingern komme ich nicht vorbei. Mal abgesehen
davon, dass ich mich hier garantiert nicht bis auf die Haut ausziehen werde.“
„Was sollte dich daran hindern?“
Terrence starrte sie nur finster an.
„Eigentlich ist das albern. Sie wäre nicht das erste Mädchen, das mich nackt sieht.
Seit wann bin ich so schüchtern? Außerdem ist mir wirklich kalt und ich habe keine
Lust, mir eine Lungenentzündung zu holen. Es ist wirklich der falsche Augenblick,
den Helden zu spielen. Aber wie komme ich aus der vermaledeiten Hose?“
„Versuche es hiermit.“
Alicia hielt ihm eine Schere hin, die sie irgendwo aufgetrieben hatte.
„Danke, Al. Aber ich wäre für ein wenig, hm … – wie nennt man das doch gleich? –
dankbar.“
„Privatsphäre? Sicher. So scharf bin ich nicht darauf, nackte Jungs zu betrachten.“
Sie rückte einen zweiten Stuhl näher heran und deponierte ein Stoffbündel auf dessen
Sitzfläche.
„Deine Ersatzklamotten.“
„Danke, Al.“
„Außer Rufus nennt mich niemand Al. Für Jo bin ich Maus. René nennt mich meist
Alicia, nur selten Maus.“
„Ich finde Al passend. Maus … – wir kennen uns noch nicht lange genug. Ich war
mir einfach nicht sicher, ob es dir recht gewesen wäre.“
Alicia grinste. „Ein Straßenjunge mit Zartgefühl. – Mir ist alles recht.“
Terrence machte sich mit der Schere an die Arbeit. Der Stoff war wirklich von guter
Qualität und die Schere schon ein wenig stumpf.
Alicia hatte sich abgewandt. Vor ihr befand sich ein Ständer mit allerlei Requisiten,
darunter auch ein auf Hochglanz polierter silberner Schild, der das Licht der Kerzen
reflektierte, die den Plan des Hauses beleuchteten. Sie konnte den Plan und die
Kerzen recht deutlich sehen, auch Terrence, der sich am Rand bewegte.