Die Darlington Road Kids
Band 3
Der Auftrag
Fenchurch Street
„Wohnen in diesem Teil der Stadt eigentlich nur Besoffene und
Bekloppte?“, maulte René und versuchte, die Küchenabfälle, zum
Glück nur trockene Blätter und Zwiebelschalen, von der Jacke zu
zupfen.
„Hat fast den Anschein“, meinte Jo grimmig. „Aber wir haben ja
noch zwei Adressen vor uns.“
„Macht, dass ihr fortkommt, Gesindel!“, rief die ungnädige
Hauswirtin ihnen von der Tür aus zu und fuchtelte mit ihrem
zerzausten Reisigbesen. „Oder ich hole die Stadtwache. Fort, haut
ab!“
„So eine alte Hexe“, knurrte Rufus.
„Wohin jetzt?“, fragte Jo.
„St.Helens Street“, meinte Mara. „Da lang.“
Sie führte sie durch eine Gasse und sie überquerten die
Leadenhall Street.
Mara kannte sich offenbar gut aus, denn sie schlug einen
verschlungenen Weg durch schmale Durchgänge, der zu
Hinterhöfen und Werkstätten führte, ein.
Jo sah sich um. Das übliche Londoner Stadtbild, und da sie sich
nahe zum Tower und zur Themse hin befanden, sah man neben
Geschäftsleuten, Dienstboten, fliegenden Händlern und
Lieferanten auch eine größere Anzahl von Soldaten und Seeleuten
– und natürlich die stets gegenwärtigen Bettler, oft Invalide –
echte und falsche.
Dean tauchte plötzlich vor ihnen auf. Er hatte es offensichtlich
eilig und sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Mara blieb stehen.
„Dieser dreimal verdammte Idiot!“, stieß sie hervor. Hinter Dean
erschienen drei schwarz gekleidete Jungen. Sie trugen Hüte mit
hoher Krone und schmaler Krempe, schwarze Mäntel, die ihnen bis
zu den Knien reichten, darunter schwarze Westen und weiße
Hemden. Bei einem von ihnen hingen vorne dünne Stoffquasten
oder Schnüre über den Hosenbund. Alle drei waren schlank, aber
kräftig und offenbar gut genährt.
Dean lief an den DaRoKi vorbei, seine drei Verfolger blieben in
einiger Entfernung stehen. Jo sah sich nach Dean um. Dieser blieb
abrupt stehen. Hanson und Tolliver kamen ihm entgegen, auch sie
hatten es eilig. Ihnen waren gleich fünf dieser schwarzgekleideten
Jungen auf den Fersen. Auch sie blieben in einiger Entfernung
stehen.
„Verfluchte Schwachköpfe“, fauchte Mara. „Trottel! Armleuchter!
Waren die so bescheuert, zu glauben, dass die Masada Kfir sie
nicht bemerken würden? Mist, das gibt Ärger.“
In einem Durchgang tauchten weitere der schwarz Gekleideten auf
und vor ihnen öffnete sich eine Tür.
„Was geht hier vor?“, fragte Maus. Sie klang besorgt, ein wenig
verunsichert.
Jo sah Mara stumm an.
„Solomon Raiders“, erklärte die Königin der Pavee heiser. „Um
genau zu sein, die Masada Kfir. Ariels Leibwächter. Eigentlich
braucht er die nicht, das ist mehr Show, zum Beeindrucken, aber
schlagen möchte ich mich mit den Burschen nicht. Schon mal gar
nicht wegen dieser drei Blödmänner!“ Sie warf den drei Daus einen
wütenden Blick zu. Vor ihnen schloss ein junger Mann die Tür. Er war
fast so groß wie Jo, trug die gleiche schwarze Kleidung wie die Jungen,
hatte aber statt des Hutes eine schwarze Kappe auf dem Kopf. Die
lockigen, schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, nur eine
Strähne fiel direkt über seine Nase in die Stirn. Und auf seiner Brust prangte
ein goldenes Schmuckstück. Dunkler Flaum bedeckte seine Oberlippe und die
Wangen. Er kam langsam auf sie zu, breitete die Arme ein wenig
aus. Zwei Schritte vor den DaRoKi blieb er stehen und musterte
sie intensiv.
Das Schmuckstück war ein goldener Davidstern, wie sie nun
erkannte. Sie hatte ähnliche bei Dov Cohen und seinen Söhnen
gesehen.
Der junge Mann lächelte, er schien sich zu amüsieren.
„Shalom alejchem, Mara Banríon na Pavee.“
„Alejchemshalom, Ariel Aluf der Solomon Raiders.“
„Die Schmocks sin völlig ohne Gayst. – Die neue Schickse von
Terrence is' sheyn.“
Jo runzelte die Stirn. Das klang wie Deutsch, ein wenig, aber mit
einer etwas anderen Betonung. Dov Cohen unterhielt sich in der
gleichen Sprache mit seinen Angehörigen und einigen Kunden.
„Schmock bedeutet soviel wie Tölpel, Idiot. Gayst? Klingt wie
Geist. Ach so, Verstand. Er hat gesagt, dass die Tölpel den
Verstand verloren haben. Damit meint er wohl Dean, Hanson und
Tolliver, wahrscheinlich auch Giles. Naja, der scheint wirklich ein
bisschen verrückt zu sein. Schickse? Das Wort habe ich auch
schon gehört. Bedeutet soviel wie Frau oder Mädchen. Das hat
erwohl auf mich bezogen, Terrence war ja eindeutig. Aber was
bedeutet sheyn?“ Mara grinste, warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
„Terrese shtendik hat a gut geshmak“, antwortete sie. „Die dray
Dau sin barmi. Willste zoffen?“
Der junge Mann lachte hell auf.
„Wegen der dray Goim? Hältst mich für barmi? Ick weeß, dass er
a gute Geshmak hat.“
Mara grinste breit.
„Nee!“
„Stell mich vor. Bitte!“, wechselte er übergangslos ins Englische.
Er sprach es mit nur leichtem Londoner und einem ungewissen
deutschen Akzent, was in Jos Ohren etwas exotisch klang und sich
tatsächlich deutlich von Dov Cohens Englisch unterschied.
„Dein Wunsch sei mir Befehl, Ariel.“
Mara räusperte sich ein wenig.
„Ich darf vorstellen: Josephine Farnsworth, Alicia Baker, René
Malvoisin und Rufus Black. Die DaRoKi. − Meine Freunde, das ist
Ariel ben Dan, der Aluf der Solomon Raiders. Wir befinden uns auf
seinem Gebiet, hier ist er das Gesetz.“
„Nur nach Gott“, murmelte Ariel leise. Er lächelte freundlich. „Ich
habe schon von euch Gojim gehört. Das mit Dawkins und Colm
habt ihr fein hinbekommen. − Ich habe auch schon von deinem
Vater gehört, Josephine Farnsworth. Dov Cohen und seine Söhne
haben mir von ihm erzählt. Die DaRoKi haben immer und zu jeder
Zeit, einzeln oder in der Gruppe, das Recht, das Gebiet der
Solomon Raiders zu betreten und zu durchqueren. Eisauge genießt
die gleichen Rechte wie Mara Banríon na Pavee und Terrence
Sionnach O'Hara. Wer sich in ihrer Begleitung befindet, ist
unantastbar. Habt ihr das gehört, Raiders?“
„Ja, Aluf!“, erklang es im Chor.
„Gut. – Hast du das verstanden, Eisauge?“
Jo starrte ihn an. Dieser Ariel räumte ihr die gleichen Rechte ein
wie Mara und Terrence und sie hatte keine Ahnung, was das
bedeutete und wieso er das tat. Aber es bezog sich offenbar auch
auf die Daus der anderen Gangs, die bei ihnen waren.
Er gewährte ihnen freie Passage, obwohl er mit ihren Anführern
verfeindet war. Das war überaus großzügig. Und obendrein hatten
die DaRoKi, allein oder in der Gruppe, freie Passage.
„Ja, ich habe das verstanden“, sagte sie langsam. „Aber wieso?“
„Das erklärt dir Mara, sheynes Mädchen. Befinden sich also Dean,
Hanson und Tolliver in deiner Begleitung?“
Ariel sah sie fragend an, seine Lippen zuckten ein wenig. „Oder
sollen wir dich von der Anwesenheit der drei Idioten befreien?
Notfalls auch dauerhaft.“
„N... nein, ich ... sie sind in meiner Begleitung.“
„Gut. Dann haben die drei für jetzt freie Passage. Allerdings, wenn
ihr Schwachköpfe euch von Mara und Eisauge entfernt und
außerhalb der Pavee-Eskorte seid, dann machen wir Schaschlik
aus euch. Verstanden?“
Die drei Daus nickten hastig.
„Gut.“
Er trat näher an Mara und Jo heran. Er witterte.
„Rosenwasser und Veilchen. − Du hast gebadet, Mara.“„Ich hatte
die Gelegenheit“, bekannte Mara, nicht im Geringsten verlegen.
„Du weißt, dass du auch unser Badehaus benutzen kannst, wenn
du magst. Nur in der Mikwe darfst du nicht blicken lassen, da
werden die Rebbe und die Alten komisch.“
„Danke.“
Er sah Jo an.
„Solltest du oder deine Freunde jemals auf meinem Gebiet in
Schwierigkeiten geraten oder auch in anderen Teilen der Stadt ...
Tórai! Und damit wir wissen, dass du es bist oder auch Mara: Shoo-
Ahl. – Shalom.“
Ariel ben Dan wandte sich abrupt ab, gab seinen Leuten ein
Handzeichen und die Solomon Raiders verschwanden lautlos.