Die Darlington Road Kids
Band 4
Voodoo
Ein Ausflug
Sie fingen sie in einer Gasse ab. Sechs Jungen afrikanischer Abstammung blockierten den Weg. Die DaRoKi blieben stehen, ein rascher Blick über die Schulter zeigte das eine zweite Gruppe ihnen den Rückweg abschnitt.
„Was wollt ihr?“ fragte einer.
„Cato besuchen“, erklärte Terrence.
„Wer sind deine Begleiter?“
„Die DaRoKi.“
Der Wortführer zögerte einen Augenblick, musterte sie neugierig.
„Kommt“, sagte er schließlich. Sie gingen die Gasse ein Stück hoch, bogen ab und landeten auf einer schmalen Straße die nach Osten führte, in einiger Entfernung konnte man sehen das die Bebauung nicht mehr ganz so dicht war, sie hatten London verlassen und waren in den Vororten. Ein Stück weiter erhob sich eine kleine Kirche, umgeben von einer hüfthohen Mauer aus Feldsteinen. Der Junge öffnete eine schmale Pforte und sie folgten ihm über einen geschlungenen Pfad.
„Eine Kirche?“ wunderte sich Alicia. „Sie haben eine Kirche besetzt?“
„Gemietet“, sagte Terrence. „Nicht besetzt.“
„Aber … man kann doch eine Kirche nicht mieten.“
„Offenbar schon“, meinte Rufus trocken. Durch eine Seitentür kamen sie ins Kirchenschiff. Die Bänke waren entfernt worden, überall waren Schlafplätze eingerichtet worden, aus einer Kapelle drang der Geruch nach Fisch und Kohl, jemand klapperte mit Zinntellern.
Wohl dreißig Jungen und Mädchen hielten sich im Kirchenschiff auf, reine Afrikaner und Mischlinge jeder Schattierung, von vier oder fünf Jahren bis fast erwachsen.
Die DaRoKi waren ein wenig verunsichert.
„Keine Angst“, meinte einer ihrer Begleiter. „Im großen Kessel ist heute die Fischsuppe.“
„Wie?“ wunderte sich René.
„Aber wenn ihr morgen wieder kommt ist Platz. – Ich mag weißes Fleisch. Du siehst schön mager aus.“
„Spinnst du?“
„Cudjoe – nicht jeder teilt deinen Sinn für Humor“, maßregelte Terrence den Jungen halblaut.
„Wer sagt, das ich Witze mache?“
„Sag Cato, das wir hier sind.“
„Eine Kirche?“ wiederholte Alicia, immer noch erschüttert das die Kingston Boys sich in in diesem Gebäude einquartiert hatten. „Wie können sie eine Kirche besetzen? Das ist … irgendwie sehr frech.“
„Man nimmt was man kriegen kann“, sagte Terrence. „Wenn es regnet, schneit, es bitterkalt ist, dann ist dir jeder Unterschlupf recht. Schweinestall, Schlachthaus oder halt eine Kirche.“
„Aber die Gemeinde … die Leute kommen doch her um zu beten, Zwiesprache mit Gott zu halten. Eine Kirche ist doch kein Wohnhaus“, wandte Alicia ein.
„Doch, in gewisser Weise schon“, wandte René ein. „Gott wohnt hier. Und Jesus. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe jemanden Obdach zu geben, der keine Unterkunft hat.“
„Aber das gilt doch nur für Wanderer“, meinte Alicia.
„Sind diese Kinder nicht auch Wanderer?“ fragte René.
„In gewisser Weise schon“, stellte Jo fest. „Auch wenn es ungewöhnlich ist dauerhaft in einer Kirche zu wohnen. Das ist doch hier auf Dauer, oder?“
„Die Kingstons wohnen hier schon fast drei Jahre“, antwortete Terrence. Um den Altar herum kam ein untersetzter, gemütlich aussehender junger Mann der sich gerade noch die leuchtend rote Jacke eines Soldaten zu knöpfte, beim Anblick von Alicia stutzte und breit lächelte.
„Wie schön, jemand mit dem gleichen Geschmack wie ich. – Ich bin Cato. Und ihr seit die DaRoKi. Hallo Terrence, schön das du meiner Bitte folge leistest. Ich habe aber nicht gedacht das du deine Gang gleich mitbringst. Kommt.“
„Bitte?“ murmelte Terrence. „Darüber reden wir noch.“
Sie folgten Cato hinter den Altar wo man eine Art Wohnung eingerichtet hatte. Es gab einen großen Tisch, mehrere Stühle, einen Kanonenofen, hinter einem Vorhang stand ein breites Bett, in den Ecken gab es einige Kisten. Eine junge Frau stand am Ofen und machte frischen Tee.
„Setzt euch“, forderte der Anführer der Kingston Boys seine Gäste auf. „Tee? Oder lieber Rum? Bier ist leider ausgegangen.“
„Tee ist völlig ausreichend“, wiegelte Jo ab. „Guten Tag, übrigens. Ich …“
Cato lächelte verschmitzt.
„Ich weiß … Du bist Eisauge, Jo oder auch Big Jo. Josephine Farnsworth, deinem Vater gehört das Farnsworth Inn. Der afrikanische Kollege ist Rufus Black, der Sohn von Joe Black dem Schmied, Giles nannte dich Ungläubiger. Der Bursche der aussieht als wäre in der Savile Row aus einem Schaufenster geflüchtet ist René Malvoisin, der Sohn des Schulmeisters, Dandy-Boy genannt. Und du bist Alicia Baker, die kleine Maus – Tochter von Herb Baker, dem Runner. Man hat euch ausführlich beschrieben. Auch was ihr in den letzten Wochen so alles angestellt habt. Meinen Respekt, für bürgerliche Kinder seit ihr ziemlich mutig, geradezu verwegen. Da tut es auch keinen Abbruch das euch Terrence ein wenig geholfen hat. Willkommen in meinem bescheidenen Heim.“
Die junge Frau servierte den Tee.
„Du schwätzt, Cato“, sagte sie sanft. „Lass doch unsere Gäste auch zu Wort kommen.“
„Und das ist Jessica, meine Freundin“, fuhr Cato nach einer kurzen Pause fort und legte einen Arm um ihre Hüfte. „Und mein Gewissen. – Setz dich doch.“
Jessica, eine hellhäutige Mulattin, setzte sich neben Cato während die DaRoKi den Tee probierten.
„Ausgezeichnet“, sagte Terrence erfreut.
„Danke. Letzte Woche von einem Ostindienfahrer erbeutet“, grinste Cato. „Um genau zu sein von Cad gekauft und der hat das Zeug den Flusspiraten abgehandelt. – Paddy sagte mir das ihr Fragen zum Voodoo habt.“
„Ja, wir suchen jemanden, der uns sagen kann wer eine bestimmte Puppe gemacht hat. Und in wessen Auftrag“, erklärte Jo und nippte vorsichtig an dem Tee.
„Hm. Diese Leute reden normalerweise nicht mit Fremden“, erklärte Cato zurückhaltend. „Weshalb wollt ihr mit ihnen sprechen?“
„Jemand hat mir zwei dieser Puppen vor die Tür gelegt“, sagte Rufus. „Die letzte mit einer Nachricht. Klingt wie eine Drohung.“
„Ah so, verstehe. – Ich muss darüber nachdenken. Ihr wundert euch vielleicht weshalb wir in einer Kirche wohnen.“
„Allerdings“, sagte Alicia. „Das ist doch sehr ungewöhnlich.“
„Als Terrence und seine Kumpel vor drei Jahren die alten Gangführer entmachtet haben … was denn, das ist doch kein Geheimnis, Terry. Also guck mich nicht so grimmig an. Ich bin schließlich kein Huhn.“
Terrence knurrte leise, er konnte seinen Unwillen über die Indiskretion kaum verbergen.
„Terrence hat also die Gangführer damals entmachtet“, stellte Jo fest. „Und das hat dazu geführt, das ihr in einer Kirche wohnt?“
„Auf Umwegen, gewissermaßen. Unser altes Quartier lag näher bei Moor Fields, allerdings auf dem Gebiet das jetzt von Ariel kontrolliert wird. Als Dreadnaught entmachtet wurde haben die Kingston Boys, damals nannten wir uns noch Maroons, mich zu ihrem neuen Anführer gewählt. Und weil damals die Gebietsgrenzen festgelegt wurden, mussten wir uns ein neues Quartier suchen. So sind wir hier in der Gegend gelandet und erst mal notdürftig in der Kirche untergeschlüpft. Die Gemeinde hier ist bitterarm, sie kann sich kaum das Gehalt des Reverends und den Unterhalt der neuen Kirche leisten. Diese hier stand leer, das Dach war undicht und der Bau verfiel langsam. Ich kam mit den Kirchenältesten zu einer Übereinkunft, sie vermieteten mir die Kirche und das Grundstück mitsamt Friedhof.“
„Aber die Kirchenältesten wissen doch wer ihr seid?“ fragte Alicia.
Cato lächelte sanft.
„Natürlich. Wir sind die Leute die jeden Monat 15 Shilling Miete zahlen und damit einen Teil des Gehalts des Reverends finanzieren. Wir sind die Leute die das Dach dieses Gemäuers repariert und das Gebäude trocken gelegt haben. Und wir sind auch die Leute die einen Teil der Waisen dieser Gemeinde aufgenommen haben. Womit wir unser Geld verdienen – das interessiert die Männer nicht, sie wollen es nicht wissen.“
„Aber …“, setzte Alicia an und verstummte dann. Ihr war klar das es dumm war Cato zu verärgern.
„Und womit verdient ihr euer Geld?“ fragte Jo gerade heraus.
Die anderen verschluckten sich fast an ihrem Tee, Terrence rechte Braue schnellte nach oben.
„Wir handeln mit allerlei Zeug das wir Cad abkaufen. Kaffee, Tee, Zucker, Tabak, Stoff und Gewürze vor allem. Ein paar von uns haben sich als Dienstboten einstellen lassen, andere sind Kohlenträger, arbeiten auf den Märkten. Wir haben auch ein paar Diebe.“