Band 6 „Königliche Affären – Adel verpflichtet“ Leseprobe
Als sie das Ende des Hohlwegs erreichten hielt Jo im Schatten des Hügels an
und genoss für einige Augenblicke die Aussicht. Dann wandte sie sich nach
rechts. Dort gab es einen Reitweg der zu einem Gatter in der Mauer führte, die
die Grundstücke trennte. Jenseits der Mauer lag eine gut zwei Meilen lange und
fast eine dreiviertel Meile breite Wiese. Jo und Lester untersuchten das
südwestliche Ende des Hügels, dessen Hang dort teilweise sehr schroff war und
wandten sich nach Westen, ritten die Grenzmauer ab.
Ein Stück hinter dem Gatter brachten sie die Pferde zum Stehen und
beobachteten die Trainingsgruppe, die in leichtem Galopp über diese Wiese ritt.
Diese Wiese diente als Rennstrecke, aber auch für große Formationen wie sie
von Kavallerietrupps benutzt wurden.
Am südlichen Rand waren Carson, Sir Kevin, Lady Kate und Prinz Humayun.
Jo sah sich um und entdeckte Craddock und Dennison am nördlichen Rand der
Wiese, wo sich die Hügelkette erhob die das Tal einfasste. Ein Stück vor ihnen
waren Pereira und die Gebrüder McGregor. De Witt ritt im Osten Kreise,
Marlowe war bei ihm. Khan trug ein Privatrennen mit Nazim und Dougal
McGregor aus, auf der Südseite.
„Wir können davon ausgehen das keiner unserer Verdächtigen der Spion ist.
Oder die Spionin“, bemerkte Maus. „Also ist es jemand den wir bisher noch
nicht verdächtigt haben oder von vornherein ausgeschlossen haben.“
Jo lenkte Widowmaker nach Osten und in gemächlichem Tempo ritten sie am
Rand der Rennstrecke entlang. Hinter sich das Donnern der Hufe von Khan,
Nazim und Dougals Tieren, die rasch näherkamen.
„Ja, wir haben alle die keinen Zugang zum Büro haben ausgeschlossen“,
antwortete Jo. „Und die behalten die noch nicht lange hier sind, Lesen und
Schreiben können und Zugang haben. Außerdem Janice, Robards, Pilcher und
Billings. Marlowe schlug die Carsons und die Waylands vor. Granddad wies das
heftig zurück, er schließt die vier grundsätzlich aus.“„Robards, Pilcher und
Janice kann ich verstehen – die sind ewig hier. Warum Billings?“
„Billings ist ein Verwandter.“
„Ein Verwandter?“ wunderte sich Lester.
„Ja, ein Abkömmling eines Bastardsohns von meinem Urgroßvater. Oder
Ururgroßvater? Ich weiß das gerade nicht. Jedenfalls schließt ihn Granddad
deshalb aus.“
Lester verzog das Gesicht.
„Ich weiß nicht ob das klug ist. Nicht Erbberechtigte Nachkommen können
manchmal ziemlich wütend werden und dann dumme Sachen anstellen.“
„Menschen tun allgemein ziemlich dumme Sachen“, grunzte Maus. „Zum
Beispiel reiten! – Nüchtern betrachtet ist es natürlich idiotisch sich für den
Fehltritt eines Mannes von vor hundert Jahren oder so rächen zu wollen. An
dessen Nachkommen! Billings müsste klar sein, das Sir Kevin ihn glatt
persönlich aufhängt und keine Rücksicht auf irgendeine Verwandtschaft nimmt.“
Ein heftiger Schlag erschütterte die Luft, dröhnte in ihren Ohren. Sie hielten ihre
Pferde mit einem Ruck an. Der Wind nahm zu, es wurde mit einem Mal kälter,
einzelne Regentropfen erreichten sie.
Gleichzeitig drehten sie sich um.
„Gewitter“, rief Lester. „Wir müssen hier weg.“
Nazim und Dougal kamen in gestrecktem Galopp an ihnen vorbei, die Jockeys
und Reitknechte lösten die Gruppe auf, strebten nach Norden, Süden und Osten.
Die ruhige Szenerie verwandelte sich rasend schnell in etwas das nahe der Panik
war, denn die Gewitterfront näherte sich mit ungeheurem Tempo.
Auf der westlichen Hügelkette traf ein Blitz einen hohen Baum und setzte ihn in
Brand. Lester gab seinem Wallach die Zügel frei, Khan schoss an ihnen vorbei,
dann andere Reiter. Jo gab dem Hengst die Zügel frei.
„Lauf“, rief sie dem Hengst in die Ohren. „Lauf!“Aus dem Augenwinkel sah sie wie
Maus die Flanken ihres Ponys mit den Haken
bearbeitete und mit dem losen Ende des Zügels um sich schlug. Und das Pony
setzte sich mit aufgerissenen Augen in Bewegung war aber innerhalb von
Sekunden von Widowmaker abgehängt. Jo versuchte Widowmaker etwas zu
zügeln aber der Hengst achtete nicht mehr auf ihre Kommandos, seine Instinkte
hatten die Oberhand. In rasendem Galopp hielten sie auf den kleinen Hügel zu.
Jo gab auf. Sie hoffte das Maus sich im Sattel halten und ebenfalls versuchte
zum Hügel zu kommen.
Jo wusste das man sich bei Gewitter nicht auf einer freien Fläche aufhalten
sollte. Und man Schutz nur in Baumgruppen fand, niemals unter einzelnen
Bäumen, wenn man nicht in ein Gebäude flüchten konnte.
Laub, Grashalme, kleine Zweige flogen vorbei, Jo spürte den Druck des Windes
im Rücken, Regenwasser peitschte ihren Nacken. Sie beugte sich weit vor,
stellte sich in den Steigbügeln auf.
Verweht waren die Rufe der Männer zu hören die versuchten weiten Abstand
voneinander zu halten und sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Der Donner
kam immer näher, ohrenbetäubend zusammen mit dem Rauschen des Regens. Jo
wurde kalt, sie konnte ihren Atem sehen, plötzlich war es als würde sie mit
kleinen Steinen bombardiert. Der Hengst wieherte laut, brach nach rechts aus
und Jo musste den Kopf einziehen als sie plötzlich am Hügelrand zwischen den
Bäumen waren. Widowmaker wurde langsamer, suchte sich seinen Weg den
Hang hinauf. Etwas überrascht bemerkte Jo das sie auf einem Pfad waren, der
Wind und die Hagelschauer trieben sie voran. Da waren Hufspuren auf dem
Pfad, jemand musste kurz vor ihnen diesen Weg genommen haben. Die Wolken
verdunkelten das Land, von einem Augenblick zum anderen schien es Nacht
geworden zu sein. Irgendwo schlug erneut ein Blitz ein, der Widerschein gab ihr
eine gewisse Vorstellung wo sie waren aber ehe sie sich noch das Regenwasser
aus den Augen wischen konnte war es wieder dunkel. Es hörte auf zu Hageln
aber der Regen war so dicht das sie kaum einige Schritte weit sehen konnte.
Sie waren auf dem Hügel. Überall standen uralte Bäume, es war nur wenig Platz.
Widowmaker suchte sich instinktiv eine Gruppe von drei sehr dicken Bäumen
die dicht zusammenstanden und so eine Art Windschutz bildeten. Jo richtete sich
etwas auf. Sie schob sich die Reitkappe in den Nacken, wischte sich den Regen
von der Stirn, aus den Augen, als es heftig donnerte, ein Blitz zuckte in schrägen
Winkel über den Hügel und Jo sah einen anderen Reiter, nur ein halbes Dutzend
Yard entfernt. Sie wollte rufen, als sie von etwas getroffen wurde.
17. Kopfschmerzen
Mittwoch, 07. März Mittag
Kalter Regen, Hagelkörner, ein unruhig stampfendes Pferd, etwas klebte an
ihrer Wange, feucht, irgendwie schleimig. Und ein widerlicher, modriger Geruch
stieg ihr in die Nase. Jo versuchte die Augen zu öffnen aber es gelang ihr nicht.
In ihrem Hinterkopf saß ein furchtbar bohrender Schmerz der sich langsam
immer weiter fraß, unaufhaltsam. Wie das Rauschen des Regens.
„Kutiya!“
Nur ein Wort und es verwirrte Jo. War das englisch? Und dieser furchtbare neue
Gestank in ihrer Nase. Das roch wie ...
Ehe Jo noch ihre Augen ganz offen hatte packte sie mit der linken Hand ein
erstaunlich schmales Handgelenk und zog es mit aller Kraft zur Seite, entfernte
so die Geruchsquelle unter ihre Nase. Sie riss den Mund auf und atmete tief ein
während jemand mit rauer Stimme laut fluchte, nicht eben damenhaft.
„Pisse!“ schnappte Jo. „Willst du mich umbringen?“
„Dann hätte ich kein Riechsalz verwendet, dummes Gör. Ah, das gibt blaue
Flecke. Du hast einen Griff wie ein Schraubstock.“
„Damit haben wir Gleichstand“, japste Jo, schloss die Augen, ohne ihre
Umgebung richtig wahrgenommen zu haben, ließ den Kopf aufs Kissen
zurücksinken und schluckte ein paarmal heftig.
„Wie fühlst du dich?“ fragte Lady Kate, um einiges sanfter als noch vor einigen
Sekunden.„Kopfschmerzen. Und schwindelig. Und ... mein Magen ...“
„Du hast ordentlich was auf den Kopf bekommen“, erklärte ihre Tante. „Nach
Lesters Aussage war der Ast der dich erwischt hat stark wie ein Männerarm,
ungefähr drei Yard lang. Das Ding hätte dich leicht umbringen können.“
„Naja, Holz auf Holz“, warf Lady Allyson ein. „Die Covingtons haben alle
einen harten Schädel. Und der von ihrem Vater ist aus Granit. Hier, das wird
helfen.“
Wenig zartfühlend deponierte ihre Großmutter ein triefend nasses, eiskalte Stück
Stoff auf ihrem Kopf und ihrer Stirn.
„Teufel!“
„Angenehm, Großmutter“, feixte Lady Allyson. „Du hattest wirklich Glück. Nur
eine Beule am Hinterkopf, ein blauer Fleck an der Schulter. Sonst ist nichts
passiert.“
Jo öffnete die Augen, blinzelte. Sie war in ihrem eigenen Zimmer im
Farnsworth-Turm.
„Wie bin ich hierhergekommen?“
„Lester hat dich wie einen nassen Sack über den Sattel gelegt“, meldete sich
Maus. „Nachdem er eine halbe Stunde auf dem Hügel nach dir gesucht hatte.“
„Oh, das erklärt meinen verstimmten Magen. Geht es dir gut? Ich hatte Sorge du
würdest stürzen.“
„Dazu hätte nicht viel gefehlt“, gab Maus zu. „Am Ende konnte ich mich kaum
noch im Sattel halten. Aber dann holten mich de Witt und Marlowe ein,
gemeinsam brachten sie das Pony zum Stehen.“
„Also haben wir beide noch mal Glück gehabt, mehr oder weniger.“
„Naja, mein Sitzfell ...“
„Dafür habe ich eine Salbe“, sagte Lady Kate und griff nach ihrer
Reiseapotheke. „Hinlegen und Hosen runter.“
„Aber ...“„Wenn du eine Woche nicht sitzen, deine Mahlzeiten im Stehen einnahmen und
auf dem Bauch schlafen willst ... Deine Entscheidung.“
„Verdammt.“
Jo verkniff sich ein Kichern
„Wo ist Widowmaker?“
„Gesund und munter. Lester holt ihn wahrscheinlich gerade von der Koppel.“
„Von der ... Oh. Ist das nicht ... nach heute...“
„Zu anstrengend?“ fragte Lady Kate während sie großzügig Salbe verteilte,
untermalt von leichtem Stöhnen der Patientin. „Nein, überhaupt nicht. Dein
Hengst verträgt einiges. Und hätte Lester Bedenken gehabt, hätte er ihn nicht auf
die Koppel gelassen.“
„Du vertraust Lesters Urteil sehr? Ich meine, ich habe nie einen Grund zur
Klage gehabt aber ...“
„Du hast gerade das Gefühl das du kein Mitspracherecht hast. Das musst du mit
Lester klären. Und ja, ich vertraue seinem Urteil – bis zu einem gewissen
Punkt.“
„Nur bis zu einem gewissen Punkt?“
„Der Bengel könnte, technisch, fast mein Enkel sein. Und ich lasse mir von
Kindern eher selten reinreden. – Habt ihr was gefunden?“
„Wie, was meinst du?“
„Verkauf mich nicht für dämlich oder ... ich habe hier noch eine schön
stinkende Salbe für die Muskelentspannung, würde deinem Nacken bestimmt
guttun. Allerdings löst der Geruch auch Übelkeit aus.“
„Grandma, diese Frau droht mich zu foltern“, beschwerte sich Jo. Ihre
Großmutter hob die Schultern.
„Was kann ich alte Frau gegen sie schon ausrichten? Außerdem: Die Klügere
gibt nach. Also sei klüger.“
„Nein, wir haben nichts gefunden, aber ... wir kamen nicht dazu alle
Möglichkeiten zu untersuchen.“„Gut. Du bleibst im Bett, wenigstens bis morgen früh, dann habe ich Zeit noch
einmal nach dir zu sehen. Maus wird hierbleiben und auf dich aufpassen.
Maus, wenn dieses Gör irgendwas Dummes versucht schreist du die Burg
zusammen. Das ist ein Befehl.“
„Aye, Ma ́am. – Hast du das gehört, Jo?“
Jo seufzte leise. Sie fühlte sich sehr müde.
„Kein Grund so zu schreien.“
„Ich schreie nicht.“
„Doch ... du schreist.“
Lady Kate tauchte vor Jo auf.
„Schau mich an.“
Mit flatternden Liedern gehorchte Jo.
„Wie viele Finger?“
„Zwei.“
„Und jetzt?“
„Drei.“
„Und jetzt?“
„Dummer Witz.“
Lady Kates rechter Mittelfinger ragte hoch.
„Gut. Soweit. Die Schmerzen sind schlimmer geworden?“
„Ein wenig.“
Lady Kate runzelte die Stirn und sah Lady Allyson fragend an.
„Von Farnsworth in Englisch übersetzt: Mir explodiert gleich der Schädel“,
sagte Lady Allyson. „Und von Covington nach Englisch: Wo ist mein
verfluchter Kopf?“
„Verstehe. Die McGregor-Variante ist: Kann mal jemand die Axt aus meinem
Kopf entfernen? – Und für alle drei Varianten habe ich was. Zehn Tropfen
sollten reichen.“
Lady Kate holte einen Silberlöffel und ein kleines Fläschchen hervor.„Was ist das?“
„Opium.“
„Ich ...“
Lady Kate schob ihr den Löffel mit der Opiumtinktur einfach zwischen die
Zähne.